Hamburger Konzept zur Straßensozialarbeit in der Kritik: BAG Streetwork warnt vor Verlust fachlicher Standards
|Stellungnahme der BAG Streetwork/ Mobile Jugendarbeit e.V.
Leipzig, 20.08.2025
Neuausrichtung der Straßensozialarbeit in Hamburg:
Kritische fachliche Bewertung und Empfehlungen
– Kurzfassung –
1. Grundsätzliche Einschätzung
Mit dem Konzept „Verstärkt, vernetzt und präsent: Lebenslagenverändernde Perspektiven der Straßensozialarbeit und flankierende Hilfen für obdachlose Menschen in Hamburg“, veröffentlicht im Mai 2025, plant die Hamburger Sozialbehörde eine Neuausrichtung der aufsuchenden Arbeit mit obdachlosen Menschen. Zwar enthält das Papier sinnvolle Ansätze wie Regionalisierung, Multiprofessionalität und niedrigschwellige Zugänge. Doch im Kern beinhaltet es eine ordnungspolitische und paternalistische Ausrichtung. Dass eine Behörde in Konzepte und Praxis Sozialer Arbeit eingreifen will, ist alarmierend und abzulehnen.
Die geplante Umsetzung widerspricht grundlegenden fachlichen Standards, gefährdet das Vertrauensverhältnis zu den Adressat*innen und riskiert den Verlust wirksamer Zugänge zu jenen Menschen, die aktuell noch erreicht werden. Die angekündigte Stärkung der Straßensozialarbeit bleibt weitgehend Symbolpolitik – fachlich unzureichend, konzeptionell widersprüchlich und haushaltspolitisch nicht abgesichert.
Die Beseitigung von Armut sowie Wohnungs- und Obdachlosigkeit wird durch das vorliegende Konzept nicht erreicht werden. Im Gegenteil: Die geplante und abzulehnende Neuausrichtung der Straßensozialarbeit würde zu einer Verschlechterung der Lage führen, da die Basis für Hilfeprozesse bedroht wäre.
2. Fachlicher Rahmen: Was Straßensozialarbeit leisten soll – und was nicht
Straßensozialarbeit ist parteiliche, freiwillige, akzeptierende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Das Arbeitsfeld richtet sich an Menschen, die von anderen Systemen ausgeschlossen oder enttäuscht wurden. Ziel ist nicht Anpassung, sondern Befähigung: Empowerment statt Entmündigung.
Die Arbeit folgt klaren Prinzipien auf Grundlage von Lebensweltorientierung und Sozialraumorientierung: Freiwilligkeit, Parteilichkeit, Akzeptanz, Vertraulichkeit, Partizipation. Diese Prinzipien sind keine optionale Haltung, sondern professionelle Notwendigkeit. Wer sie aufweicht, zerstört die Grundlagen der Beziehungsarbeit – und damit das Fundament der gesamten Arbeit.
3. Hauptkritikpunkte am Hamburger Konzept
3.1 Ordnungspolitische Überformung
Das Konzept instrumentalisiert Straßensozialarbeit für ordnungspolitische Ziele. Die Adressat*innen werden nicht als Schutzbedürftige, sondern als „Belastung“ des öffentlichen Raums beschrieben. Straßensozialarbeit soll zur „gesellschaftlichen Akzeptanz“ beitragen – gemeint ist: Verdrängung aus dem Sichtfeld der Mehrheitsgesellschaft.
Diese Verschiebung vom Recht auf Hilfe zur Pflicht zur Veränderung ist nicht nur fachlich falsch, sondern auch politisch gefährlich. Sie rückt Straßensozialarbeit in die Nähe von Kontrolle und Disziplinierung – und entfernt sie von ihrem emanzipatorischen Auftrag. Dies steht im Widerspruch zum grundlegenden Auftrag Sozialer Arbeit.
3.2 Abkehr von Lebensweltorientierung und Akzeptanz
Mit der Forderung nach „beharrlicher Ansprache“ und „schneller Lebenslagenveränderung“ ersetzt das Konzept Beziehungsarbeit durch Ergebnisdruck. Das individuelle Selbstbestimmungsrecht wird relativiert – nicht durch Sanktionen, aber durch subtile Entwertung von Lebensrealitäten.
Die Formulierungen verkennen: Viele Menschen leben nicht auf der Straße, weil sie keine Alternativen sehen – sondern weil die Alternativen nicht tragfähig sind. Wer weiter Angebote macht, ohne ihre Passung zu hinterfragen, übt letztlich Zwang durch Wiederholung aus. Das ist nicht aktivierend, sondern zermürbend.
3.3 Kooperation mit Ordnungsbehörden
Die geplante und verbindliche Zusammenarbeit mit Polizei und Ordnungskräften gefährdet den Kern der Arbeit: Vertrauen. Wenn Straßensozialarbeit zum verlängerten Arm ordnungspolitischer Interessen wird, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit – und damit ihren Zugang zu den Menschen, die sie eigentlich erreichen soll.
Ein Dialog ist nur auf struktureller Ebene zulässig – niemals personenbezogen, niemals ohne klare Datenschutzregelungen. Alles andere ist ein Verstoß gegen professionelle Standards und womöglich gegen geltendes Recht.
3.4 Technokratisierung und Scheinobjektivität
Die Einführung eines Monitorings mit Kennzahlen (z.B. Nationalität, Beratungsanzahl, Präsenzzeiten) suggeriert Messbarkeit von Wirkung – ignoriert aber die zentrale Frage: Was bedeutet Erfolg in der Straßensozialarbeit wirklich?
Das zentrale Erfolgskriterium liegt im Aufbau und der Pflege belastbarer Beziehungen zu den Adressat*innen. Wird die Beziehungsarbeit grundlegend gefährdet sind auch alle weiteren Ziele nicht erreichbar.
3.5 Ignoranz gegenüber strukturellen Ursachen
Das Konzept benennt zwar Probleme wie Wohnungsmangel, fehlende Therapieplätze und Leistungsausschlüsse – blendet sie im weiteren Verlauf aber konsequent aus. Wohnungslosigkeit wird individualisiert, der strukturelle Kontext marginalisiert. Wer ernsthaft helfen will, muss Wohnungen schaffen, Aufenthaltsrechte sichern, Barrieren abbauen – nicht bloß „wiederholt ansprechen“.
3.6 Ausstattung: Anspruch und Realität klaffen weit auseinander
Die geplante personelle Stärkung – 2 VZÄ pro Bezirk – bleibt unterhalb bundesweit etablierter Standards. 2,5 VZÄ pro Projekt sind fachlich geboten. Bereits jetzt liegt die Versorgung in Hamburg bei unter 1 VZÄ je Bezirk – ein Armutszeugnis.
Hinzu kommt: Viele angekündigte Maßnahmen – Fortbildung, Supervision, Technik, Streetwork-Mobil – stehen unter Haushaltsvorbehalt. Was bleibt, ist ein Konzept voller Ansprüche ohne tragfähige Umsetzungsperspektive.
4. Politischer Appell
Die BAG Streetwork/Mobile Jugendarbeit e.V. fordert:
- Rückkehr zu Professionalität und zur fachlichen Autonomie der Straßensozialarbeit: Keine politischen Zielvorgaben gegen die Prinzipien von Freiwilligkeit und Parteilichkeit.
- Klares Nein zur ordnungspolitischen Instrumentalisierung: Streetwork ist kein Werkzeug zur Befriedung öffentlicher Räume.
- Statt „beharrlicher Ansprache“: nachhaltige Hilfesysteme schaffen, die tatsächlich Alternativen bieten.
- Verbindliche Umsetzung der Fachstandards: Wer echte Wirkung will, muss Standards sichern, nicht unterlaufen.
- Auskömmliche Finanzierung: Für wirksame Arbeit braucht es mehr als wohlmeinende Worte – nämlich Personal, Räume, Zeit und Geld.
5. Schlussfolgerung
Das vorliegende Konzept verfehlt in zentralen Punkten die Prinzipien und Standards professioneller Straßensozialarbeit. Es ist ein Rückschritt – fachlich, politisch und ethisch. Die im Konzept angelegte Verschiebung hin zu Kontrolle, Ergebniszwang und symbolischer Ordnungspolitik gefährdet nicht nur das Arbeitsfeld – sie gefährdet den Zugang zu Menschen, die ohnehin am Rand stehen.
Die Beseitigung der Ursachen von Armut, Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist eine politische und gesellschaftliche Pflicht. Es ist abzulehnen, die fatalen Konsequenzen zu individualisieren. Träger, Einrichtungen und Fachkräfte Sozialer Arbeit sollten sehr genau prüfen, inwiefern die Neukonzeptionierung dem Auftrag ihrer Profession entspricht.
Die BAG Streetwork/ Mobile Jugendarbeit fordert eine grundlegende Überarbeitung. Die Rechte und Interessen marginalisierter Menschen dürfen nicht der Akzeptanzlogik einer saturierten Stadtgesellschaft geopfert werden. Wer Straßensozialarbeit stärken will, muss ihr den Rücken freihalten – nicht den Auftrag diktieren.
Leipzig, den 20.08.2025
Geschäftsführender Vorstand der BAG Streetwork/ Mobile Jugendarbeit e.V.